Bericht des Heinz-Joachim Kunz aus Teschendorf

Für den Rest der Familie Kunz aus Teschendorf begann die Flucht am 22. Januar 1945. Die  "restliche" Familie, das waren : meine Mutti, meine Oma, Tante Grete und ich, - damals im siebten Lebensjahr. Opa, der Hofeigentümer, war unerwartet im September 1944 gestorben und Papa war bereits im Juli  gefallen.

Der 22. Januar war ein Montag. Das Notwendigste war schon rechtzeitig auf dem Treckwagen verstaut worden. Das Vieh in unseren Stallungen wurde losgebunden, Stalltüren und Scheunen und Futtersilos geöffnet. Ähnlich verhielten sich auch die Nachbarn. Alle Treckwagen trafen sich im Nachbardorf Groß-Teschendorf. Der Aufbruch ins Ungewisse  mit ca 40 Wagen begann. Nach kurzer Fahrt wurden alle wieder zurückbeordert, da man eine Wende in der Kriegsentwicklung erwartete. Kaum auf unserem Hof zurück erfolgte erneuter Befehl zur Flucht. Jetzt in größter Eile. Es ging im Tempo, keiner kam zu Besinnung, niemand sprach ein Wort; ein Blick auf den Friedhof, das waren die Abschiedstränen für immer.

Die Straßen waren eisglatt, die Pferde rutschten, die Wagen schleuderten. Ab Niklaskirchen -Bahnstation- durften wir, Frauen und Kinder, nicht mehr mit dem Treck fahren (Gefahr des Überrollens durch die Front). Wir wurden in Züge (Viehwaggons) verfrachtet, die erst am nächsten Tag nach Marienburg weiterfuhren. Dort standen wir erneut auf einem Nebengleis bei eisiger Kälte. Der Bahnsteig war überfüllt mit Frauen, Kindern, Kranken und Alten. Keiner gab Anweisungen. Angst ging um: Hoffentlich werden nicht die Brücken über die Nogat und die Weichsel gesprengt! Nachmittags (24. Januar) fuhren wir endlich ab. Es soll der sprichwörtlich letzte Zug gewesen sein. Die Sowjets schossen schon in die Stadt. Wir passierten am 25. die Weichselbrücke und kamen nach Danzig , Gotenhafen. Hier standen wir 36 Stunden und bekamen erstmals Verpflegung (Gemüsesuppe) durch das Rote Kreuz. Weiter ging die ungewisse Fahrt über Lauenburg, Stolp, Köslin, Kolberg nach Naugard. Dort kamen wir am 31. 1. nachts an.

In Naugard wurden wir in verschiedenen Privatquartieren untergebracht. Wir -die Teschendorfer- hielten zusammen und schafften es immer wieder, als kleine Gemeinschaft in allen Nöten zusammenzubleiben. Die Not schweißt zusammen. Die Rote Armee eroberte nach und nach Pommern. Der Kampf um Naugard setzte am 4. März ein. Unsere "zweite Flucht" begann wieder in letzter Minute am 3. März per Bahn in Transportwaggons. Bereits nachmittags wurde unser Zug bei Treptow von sowjetischen Panzern beschossen; die Lokomotive brannte. Wir sprangen aus dem Zug und flüchteten ziellos zu Fuß. Es gab Tote und Verwundete. Wir retteten nur das nackte Leben. Deutsche Soldaten nahmen uns auf Militär-Lkw mit. Wir waren tagelang unterwegs ohne Essen bei grimmiger Kälte. Geschlafen wurde auf der offenen Ladefläche und nur notdürftig bedeckt. Die Fahrt ging über Ostswine, Swinemünde nach Pasewalk (8. März). Hier erhielten wir erstmals wieder warmes  Essen, konnten uns waschen und in Betten schlafen. Am nächsten Tag ging es mit dem Zug über Neubrandenburg, Waren/a.d.Müritz, Dannenberg/Elbe, Uelzen nach Bodenteich. Dort kamen wir am 14. März in  einem Sammeltransport mit rund 280 Flüchtlingen an. Hier blieben wir 14 Tage, verteilt auf Privatquartiere.

Am 25. März 1945 explodierten auf dem Bahnhof drei mit Pulver beladene Waggons. 61 Tote konnten identifiziert werden; darunter waren zwei von unseren Teschendorfern. Am 31. März wurden wir nach Hankensbüttel weitergeleitet. Über Trecklisten und durch den Suchdienst fanden wir unsere Fluchtwagen, mit denen wir ja nicht mitfahren durften, in Pestrup bei Wildeshausen wieder. Der kleine Treck war nach zweimonatiger beschwerlicher Fahrt bereits am 21 März in Wildeshausen angekommen. Dort trafen auch wir im August 45 ein. Damit endete endgültig unsere Odyssee. Wir fanden Aufnahme, Hilfsbereitschaft und Unterstützung bei den Einheimischen und wagten hier einen Neuanfang.
Meine Oma hat den Verlust ihrer Heimat und ihres Bauernhofes nie seelisch verkraftet. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1966 haben die Ereignisse der Flucht sie gesundheitlich belastet.

 

Teschendorf nach 1945

Nach der Flucht der deutschen Bewohner war der Gemeindebereich nahezu entvölkert. Das Gutshaus Ober-Teschendorf wurde von den sowjetischen Soldaten angezündet und brannte total nieder. Frauen und Mädchen aus Nachbarorten wurden von Soldaten teilweise unter Mißhandlungen zum Füttern und Melken der Kühe abgeholt; die Tiere wurden nach Christburg (ca 10 km entfernt) getrieben und sollten in die Sowjetunion transportiert werden. Viele Frauen verfügten nicht mehr über Schuhzeug. Sie umwickelten die Füße mit Sackleinen. Nahezu alle Häuser waren leer und ausgeplündert. Im Verlauf des Jahres kam zusätzlich zur sowjetischen Besatzung die polnische Miliz. Ab 1947 setzte dann die Besiedelung der verwahrlosten Region ein. Die neuen Bewohner kamen überwiegend zusammengewürfelt aus den Bereichen Bialystok, hinter dem Bug, Lublin und Tschenstochau. Aus Teschendorf wurde jetzt Cieszymowo. Die Ländereien und Gebäude der drei großen Güter wurden durch die PGR (Landwirtschaftliche Genossenschaft) übernommen. Nahezu alle neuen Bewohner arbeiteten bei der PGR. 

Unser Bauernhof  wurde ab 1947 bis 1950 von einem Gärtner bewohnt; danach folgten 2 Bauernfamilien, die das Wohnhaus und die Stallungen und kleinere Landflächen je zur Hälfte bis Ende der fünfziger Jahre nutzten. Dann mußten sie sich neue Stellen besorgen, da die PGR auch diese Fläche übernahm. Mit dem Einstellen der Stromversorgung beschleunigte sich der Gebäudeverfall. Bei meinem ersten Besuch 1976 fand ich noch größere Mauerreste vor. Bald danach war alles abgetragen. Heute findet man aus unserer Zeit nur noch die gewaltigen Fundamente, einen kleinen Hofteich und uralte Apfelbäume, die blühen und Früchte tragen.
Klein-Teschendorf, so wie ich es in Erinnerung habe, gibt es nicht mehr.