Der Kreis Stuhm im Jahr 1945

  1. Das militärische Geschehen Während sich am 24. Januar 1945 ein russischer Angriffskeil von Elbing über Altfelde nach Marienburg vorschob, griffen russ. Panzer- und Infanterieeinheiten Marienburg ebenfalls von Südosten an. Am 23./24. Januar stießen russ. Verbände von Dt. Eylau, Rosenberg, Riesenburg und Marienwerder durch den Kreis Stuhm. Deutsche Truppen befanden sich nicht zur Verteidigung im Kreis, sie hatten sich schon Tage zuvor bis an die Weichsel, Nogat und Marienburg zurückgezogen. Zu kürzeren Gefechten kam es bei Christburg, Stuhm, Neumark, Posilge und Dietrichsdorf. Diese Kämpfe hatten keinen Einfluß auf die Operationen beider Seiten. Es wird aber berichtet, dass deutsche Truppen mit Panzern zwischen dem 26. und 30. Januar von Marienburg aus einen Gegenstoß in südöstlicher Richtung bis Ankemitt über Großwaplitz unternommen hätten. Die Russen marschierten vor allem auf folgenden Straßen: 1. Rosenberg – Christburg – Altfelde – Marienburg; 2. Riesenburg – Niklaskirchen – Altmark – Weißenberg – Marienburg; Von den zurückweichenden deutschen Einheiten sowie vom Volkssturm wurden an mehreren Plätzen Sprengungen vorbereitet und z. T. durchgeführt. Der örtliche Volkssturm, der in einigen größeren Orten zusammengezogen worden war, kam kaum zum Einsatz und wurde von der Räumungs- und Fluchtbewegung der Zivilbevölkerung mitgerissen. Von deutscher Seite war mit Rücksicht auf die wenigen zur Verfügung stehenden Truppen und Materialien eine Verteidigung des Kreises oder einzelner Plätze nicht vorgesehen. Alle Kräfte konzentrierten sich auf die Weichsel- und Nogatübergänge. Bei der Besetzung selbst wurden von den russ. Truppen nur geringe Zerstörungen angerichtet. Später gingen mehrere Ortschaften in Flammen auf, z. B. Christburg am 1. Mai 45, Stuhm, Stangenberg, Honigfelde, Brodsende, Rehhof, Dt. Damerow, Troop, Hohendorf, Braunswalde.
  2. Die Räumung und Flucht der Bevölkerung Vier Momente haben die Räumungs- und Fluchtbewegung der Bevölkerung entscheidend beeinflusst:
    1. Die Räumungsvorbereitungen wurden von den Kreisbehörden und der NSDAP unter dem Gesichtspunkt, dass die Weichsellinie von der deutschen Wehrmacht gehalten werden kann, vorgenommen. Der Mehrzahl der Gemeinden waren am 21. Januar Anordnungen zugegangen, dass die Bevölkerung für kürzere Zeit in den Kreis Dirschau gebracht werden solle.
    2. Aus mehreren Gründen wurden von der Kreisverwaltung und der Kreisleitung der NSDAP (Personalunion) Räumungsbefehle nicht gegeben oder sofort widerrufen. Gründe:
      1. Der Gauleiter hatte die Flucht verboten. Es war also nicht möglich, eine anders lautende generelle Anordnung zu geben.
      2. Der russ. Vormarsch machte so rasche Fortschritte, dass zur planmäßigen Räumung die Zeit fehlte.
      3. Die Straßen waren durch die zurückgehende Wehrmacht, durch fremde Trecks und durch die herrschende Witterung verstopft. Das galt besonders für die Weichsel- und Nogatübergänge, vor denen sich die Kolonnen bis zu 36 Stunden stauten und gleichzeitig Flugzeugangriffen ausgesetzt waren. Schließlich erklärte der Kreisleiter den Notstand: Rette sich wer kann! Jeder kann tun, was er will. Dadurch wurde das Chaos noch vermehrt.
    3. Im Kreis lebten polnische Minderheiten, polnische und russische Zivilarbeiter, die angesichts der schwindenden Autorität der deutschen Behörden mächtiger wurden. So behinderte in Dietrichsdorf ein polnisch gesinnter Bürgermeister die Räumung. Im Allgemeinen traten aber aus diesem Grunde keine Behinderungen ein. In Einzelfällen schlossen sich nichtdeutsche Arbeiter der fliehenden Bevölkerung an. Kriegsgefangene waren vorzeitig abtransportiert worden. Die polnische Minderheit blieb meist zurück.
    4. Das Ausbleiben der amtlichen Anordnungen zwang die lokalen Behörden, Dienststellen und die Bevölkerung selbst zu eigenen Entschlüssen. Wenn also dennoch ein großer Prozentsatz der Bevölkerung einen Fluchtversuch unternahm, so geht das auf die Initiative dieser Stellen zurück.

    Die Fluchtbewegung führte zu folgenden Ergebnissen: Aus gut der Hälfte der Gemeinden fuhren geschlossene Trecks los. Aufnahmekreis sollte Dirschau sein. Das gelingt nur in den wenigsten Fällen. Die Wagen der Gemeinden Posilge und Altendorf kommen nur wenige Kilometer über ihrenHeimatort hinaus, stoßen dort auf die Russen und werden zurückgeschickt. Gleichzeitig konnten noch von Christburg, Stuhm, Budisch, Gr. Waplitz, Niklaskirchen und Gr. Teschendorf am 21. und 22. Januar Teile der Bevölkerung mit der Eisenbahn nach Westen befördert werden. Im Dirschauer Raum wurden die meisten Trecks bis in das letzte Drittel des Februars festgehalten. Erst dann war es möglich, weiterzuziehen. Jetzt waren Aufnahmegebiete Kreise in Niedersachsen und Schleswig-Holstein bestimmt worden. Auf dem Wege dorthin wurden sehr viele Trecks überrollt, vor allem in Pommern, als am 1. März russische Panzer von Reetz über Köslin zur Ostsee vorstießen und den Weg nach Westen absperrten. Die überrollten Trecks wurden geplündert, die Männer verschleppt, die Frauen geschändet. Es sind Erschießungen vorgekommen. Die Flüchtenden mussten in ihre Heimatorte zurückkehren. Von den getreckten Gemeinden erreichten nur drei geschlossen Westdeutschland, vier die russische Zone (Mecklenburg und Brandenburg).

  3. Die russisch-polnische Verwaltung Nachdem durch die russische Militärverwaltung in der Anfangszeit der Besatzung sehr viele Deutsche verschleppt worden waren (ca 800), setzte die Demontagewelle ein, die u.a. zum Abbau der Eisenbahnstrecke Marienburg – Marienwerder führte. Später errichteten die Polen diese Linie wieder. Neben der Demontage lief der Abtransport von Vieh und Getreide. Das Vieh wurde in Baumgarth zu ca 400 Stück zusammengebracht und von dort nach Dt. Eylau getrieben. Als die Verwaltung im Laufe des Sommers an Polen übergeben wurde, war das Land wüst und leer. Die Güter waren von den Russen als Staatsgüter eingerichtet worden. Sie wurden erst Jahre später an Polen übergeben. Unter den Russen hatten die einheimischen Polen, bzw. diejenigen, die sich jetzt zu zu Polen bekannten, Ämter und Rechte übernommen, die vorher von Deutschen ausgeübt worden waren. Die eigentliche Enteignungswelle setzte aber erst mit der Übernahme der Verwaltung durch die Polen ein. Die Polen, die unter der gänzlichen Ausplünderung des Landes durch die Russen sehr litten, nahmen den Deutschen das letzte Hab und Gut. Die aus dem Buggebiet hinzukommenden Polen – im allgemeinen gegenüber den Deutschen freundlicher – waren sehr arm, hatten keine Maschinen für die Landbestellung, kein Vieh und kein Geld, da sie selbst Vertriebene waren. Deshalb wurde bis 1947 sehr wenig Land bestellt. Das Verhältnis zwischen Polen und Russen war sehr schlecht. Die deutsche Bevölkerung wurde zumeist in der Landwirtschaft zur Arbeit gezwungen. Typhusepedemien forderten viele Opfer. In Stuhm errichtete die polnische Verwaltung ein Straf- und Arbeitslager für Deutsche. Ein Teil der Bevölkerung nahm im Laufe der ersten Jahre – meist unter Druck – die polnische Staatsangehörigkeit an.
  4. Die Ausweisung der deutschen Bevölkerung Über das Sammellager Stuhm wurde von 1945 - 47 der größte Teil der zurückgebliebenen und zurückgekehrten deutschen Bevölkerung ausgewiesen. Danach befanden sich kaum noch Deutsche mit deutscher Staatsangehörigkeit.
  5. Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung Das Verhalten der Russen im Kreis Stuhm war ähnlich wie in den anderen Kreisen. Plünderungen, Vergewaltigungen, Erschießungen, Ermordungen, Misshandlungen und Verschleppungen ereigneten sich in fast allen Ortschaften. Die Zahl der Toten wird im Kreis auf ca 600, die der Verschleppten und Vermissten auf etwa 300 geschätzt. Massenerschießungen ereigneten sich in Christburg (80 Pers.) und Posilge (15 Pers.). Ebenso fielen deutsche Soldaten, auch Verwundete, den Russen zum Opfer. In Honigfelde wurde ein polnisches Ehepaar erschossen. In Hohendorf, Honigfelde und Georgensdorf wurden Kinder erschossen. Die Misshandlungen durch die polnische Miliz wurden in vielen Orten noch mehr gefürchtet als die der Russen.